The Killing of a Sacred Deer

Erschienen in DAS THEATERMAGAZIN 01/2018

Schuld, Rache, Sühne und die Frage: Was ist ein Menschenleben wert? Dieser Film hat alles, was ein gutes Drama ausmacht. Wer bereits bei „The Lobster“ in die merkwürdig skurrile Welt der Ideologie zwangsweiser Paarbeziehungen eingetaucht ist, kann sich beim neuen Film von Yorgos Lanthimos auf mehr gefasst machen. Der griechische Regisseur, dessen Filmtitel sich immer an die Welt der Fauna anlehnen, hat mit „The Killing of a Sacred Deer“ seinen zweiten US-amerikanischen Film gedreht. Und was für einen: Wieder ist sein Vertrauter und Lobster-Hauptdarsteller Colin Farell dabei, diesmal mit Hollywood-Diva Nicole Kidman an seiner Seite. Auch sonst scheint der griechische Independent-Regisseur in Hollywood angekommen. Ausstattung, Kamera, Cast, alles eine Nummer größer.

Glücklicherweise erstickt Lanthimos damit seinen Film nicht. Wie in „Lobster“ entführt er uns in einen merkwürdig-grotesken Mikrokosmos: Kardiologe Steven (Farell) lebt mit seiner als Augenärztin arbeitenden Ehefrau Anna (Kidman) ein beklemmendes Vorzeigeleben in der Suburb: zwei Kinder, Junge und Mädchen, großes Haus, finanzielle Sorglosigkeit, ehelicher Sex in der Stellung „Vollnarkose“. Unter der Oberfläche herrscht absoluter Stillstand: Routine hat sich eingeschlichen, in der Vorstadt-Society trifft man sich auf medizinischen Fachveranstaltungen, um mit Kollegen Belanglosigkeiten auszutauschen. Lanthimos und Mit-Autor Efthymis Filippou erweisen sich dabei einmal mehr als sehr genaue Beobachter und brillante Dialog-Schreiber. In welcher Knappheit sich das Ehepaar Murphy mit Kollegen über die scheinbar wichtigsten Dinge austauscht und dabei doch eigentlich gar nichts sagt, das ist grandios.

Doch Lanthimos belässt es nicht bei der Suburb-Analyse. Von Beginn an trifft sich Steven mit der Katalysator-Figur des jungen Martin (grandios rätselhaft: Barry Keoghan) in einem Diner, macht ihm teure Geschenke – und versucht, diese Treffen vor Familie und Kollegen zu verheimlichen. Der anfängliche Verdacht einer versteckten homosexuellen Neigung bleibt länger bestehen. Doch verbindet beide der Tod von Martins Vater, der vor einiger Zeit auf Stevens Operationstisch gestorben ist. Seither scheint sich Steven aus seiner Verantwortung herauskaufen zu wollen. Und Martin weiß Stevens schlechtes Gewissen genau zu instrumentalisieren und ihn zu manipulieren. Lanthimos zeigt analytisch genau, wie weit ein Mensch zu gehen bereit ist, der von der Möglichkeit seiner Schuld weiß – oder sie nur vermutet?

Für seinen Film bedient sich Lanthimos bei der griechischen Mythologie, aber auch in biblischen Vorlagen. Martin erscheint als Kassandra-Figur, welche die Zukunft kennt und eine grausame Lösung weiß, um das Gleichgewicht der Gerechtigkeit wiederherzustellen. Die bringt Steven in eine moralische Zwickmühle, die auch an die biblische Geschichte Abrahams erinnert. Doch Lanthimos wäre nicht Lanthimos, würde er einen Ausweg zulassen. Die dem Film und seinem Titel eingeschriebene und sicherheitshalber auch ausgesprochene Iphigenie-Reminiszenz erweist sich indes als dünner: Auch wenn sich Lanthimos mit seinem Titel „The Killing of a Sacred Deer“ auf die griechische Mythologie bezieht – Iphigenies Vater Agamemnon tötete verbotenerweise einen heiligen Hirsch –, der Film geht darüber hinaus. Anstatt um ein Tier geht es bei Lanthimos um zwei Menschenleben. Und der Autorenfilmer gestaltet seinen Kosmos kammerspielhaft kleiner, aus dem anfänglichen Nichtwahrhaben-Wollen der Eltern Steven und Anna entsteht ein moralisches Dilemma: Welches der Kinder ist mehr Wert? Die schauerlich-stärksten Szenen entstehen aus diesem Zwiespalt, wenn die Kinder (Sunny Suljic und Raffey Cassidy) im Wettstreit versuchen, den Vater vom eigenen Wert zu überzeugen.

Lanthimos gelingt es mit „The Killing of a Sacred Deer“, eine abgründige Welt zu eröffnen, in der er eine einfache These – das Gleichgewicht der Gerechtigkeit – schonungslos durchdekliniert. Glücklicherweise ohne eindeutige Antworten zu geben: Ist Martin Racheengel oder Prophet? Trägt Steven wirklich Verantwortung für den Tod an Martins Vater? Geht es um Rache, Vergeltung, Schuld, Sühne oder Gerechtigkeit? Mit großer Genauigkeit, fantastischer Schauspielerführung, einem grandiosen Cast und einem fast schon kammerspielartigen Setting erschafft Lanthimos Bilder von erschütternder Beklemmung. Zusätzlich spart er nicht an Metaphorik, wenn er immer wieder das Herz ins Bild rückt – nicht umsonst ist Steven Kardiologe. Die dissonant-kalte, symbolhaft aufgeladene Musik (einzige Ausnahme: die die musikalische Rahmung des Films mit „Schuberts Stabat Mater“, das zu Beginn des Films das Bild eines offenen Herzens untermalt, und Bachs Johannes-Passion am Ende), die kalten Klinikoberflächen, die oft groß aufgezogenen Kamerabilder – all das verbindet sich zu einer Bild- und Tonsprache von großer Intensität, die an Meisterwerke von Lars von Trier erinnert.

Lanthimos’ Fähigkeit, eine Versuchsanordnung stringent umzusetzen und bis ins Letzte durchzuerzählen, ist indes die größte Qualität des griechischen Autorenfilmers, die auch Hollywood längst erkannt hat. Und die mit Sicherheit honoriert werden wird – mit der ein oder anderen Oscar-Nominierung ist zu rechnen.