Sittenbild der Filmindustrie

Im Kino: Nicolas Wackerbarth „Casting“ 

Erschienen in DAS THEATERMAGAZIN 11/2017

Eigentlich sollte Nicolas Wackerbarths „Casting“ gar nicht ins Kino kommen. Ursprünglich war der Film „nur“ als Fernsehfilm mit dem produzierenden SWR geplant, nahm dann aber den „Umweg“ über das Forum der Berlinale, um schließlich einen Kino-Verleih zu finden. Zum Glück, denn der Film ist eine Sternstunde der Schauspielkunst. Am 01. November war Premiere im Berliner Cinema Paris.

Nach der Premiere gefragt, was das Lustigste beim Dreh gewesen sei, sagte Andrea Sawatzki: „Nicolas bat mich, einen Moment rauszugehen. Als ich wieder reinkam, haben alle gelacht, weil sie sich ausgedacht hatten, ich hätte was Schlechtes gegessen. Das ist jetzt wahrscheinlich gar nicht lustig.“ Doch, ist es. Denn die Schauspielerin wusste davon beim Dreh nichts, die geschilderte Szene ist improvisiert. Als Zuschauer weiß man von der Verabredung, und das sorgt dann eben für herrlich komische Momente. Regisseur Nicolas Wackerbarth hat es geschafft, die Schauspieler mit solchen Mitteln an ihre Grenzen zu bringen. „Casting“ ist ein Film der echten Momente.

Dabei ist es ja äußerst schwierig, authentische Momente im Film einzufangen. Wie eine echte Situation herstellen, wenn Schauspieler immer eine Rolle spielen, auf die sie sich zurückziehen können? Wackerbarths „Casting“ findet in der Improvisation eine Antwort. Denn wenn man dem Glauben schenkt, was der Regisseur (und selbst auch Schauspieler) über den Film sagt, dann gab es kein Drehbuch, sondern nur Situationen („Drehbuch“: Wackerbarth selbst und Hannes Held). Und so ist es immer wieder ein Genuss, zu sehen, wie es dem Regisseur gelingt, die Schauspieler in Situationen zu bringen, die sie völlig überraschen und bei denen ad hoc szenische Intuition gefordert ist. Als Zuschauer sieht man die Spieler arbeiten, ganz ohne Netz und doppelten Boden.

Wackerbarth hat dafür ein hochkarätiges und theatererfahrenes Ensemble gewonnen. Ideal für ein filmisches Kammerspiel. Dabei sind unter anderem Ursina Lardi, Andrea Sawatzki, Victoria Trauttmansdorff, Judith Engel, Marie-Lou Sellem, Milena Dreißig, Corinna Kirchhoff, Anne Müller. Ach ja, und auch einige wenige Männer. Und das ganz ohne Frauenquote. Denn die Grundidee des Films lehnt sich an eine berühmte Vorlage mit großen Frauenrollen an: „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ von Rainer Werner Fassbinder. Regisseurin Vera (grandios changierend zwischen Kunstbegeisterung und Regiediktatur: Judith Engel) möchte ein Fernseh-Remake des Fassbinder-Meisterwerks machen. Petra von Kants Gegenpart – hier dann doch ein Mann, Karl statt Karin im Original – ist bereits gefunden, was noch fehlt, ist eine Hauptdarstellerin. Und da kann sich Vera einfach nicht entscheiden – fünf Tage vor Drehbeginn.

Zwischen Kulissenbau und -einrichtung bittet Vera mit stoischer Seelenruhe und zurückhaltender Selbstsicherheit eine Kandidatin nach der anderen zum Vorspiel ans Set, während um sie herum alle nervös werden: Produzent Manfred (angestrengt den Chef betonend: Stephan Grossmann), Casterin Ruth (nervös bemüht, alles richtig zu machen: Milena Dreißig) und natürlich die Kandidatinnen selbst. Und weil Kostja, der die Rolle des Karl spielt, beim Casting nicht dabei sein kann, muss der erfolglose Schauspieler Gerwin (alert und intrigant: Andreas Lust) als „Anspielwurst“ herhalten – natürlich wird das Original später laut Vera „deutlich jünger“ sein, versichert sie einer Kandidatin.

Und damit sind wir mittendrin im unberechenbaren Casting-Spiel um Machtverhältnisse, Abhängigkeiten, Authentizitätsforderungen und Selbstaufopferung. Denn würde ein/e Schauspieler/in nicht alles tun, um eine Rolle in einem Film zu ergattern? Bester Vorspiel-Satz des fiktiven Castings: „Ich bin nicht hysterisch, ich leide.“ Bitte ohne Hysterie gesprochen. Ursina Lardi dabei zuzusehen – allein das lohnt schon den Kino-Besuch.

Die Qualität des Films entsteht aus der intelligenten Doppelung von Form und Inhalt. Auf der Suche nach dem perfekten Moment ist Regisseurin Vera sich nicht zu schade, schonungslos mit Anspielpartner Gerwin zu spielen: Mal macht sie ihm Hoffnungen auf eine Rolle im Film, dann lässt sie ihn von Schauspielerin Tamara Lentzke (eine verletzt-verletzende Domina: Victoria Trauttmansdorff) erniedrigen, damit er aus seiner Reserve kommt. Mögliche Folgen? Nebensache. Auch Gerwins sexuelle Orientierung wird zum Spielball: Ist er nun schwul oder bisexuell? Casterin Ruth ist sicher: Ein homosexueller Mann kann niemals authentisch eine Liebesbeziehung zu einer Frau spielen. Umso lustiger, aber auch beängstigender gerät die Szene, in der sich der eigentliche Karl-Darsteller Kostja (Tim Kalkhof) und Gerwin näher kommen, als dieser kurzzeitig die Rolle der Petra von Kant markiert: mehr als eine Filmkuss-Szene, fast eine körperliche Überrumpelung.

Es ist erstaunlich, wenn nicht sensationell, wie Wackerbarth die gestandenen, ihres Markt- und Markenwertes bewussten Schauspielerinnen dafür gewinnen konnte, sich wenig geschützt durch feste Figuren in die unangenehme Situation eines Film-Castings zu begeben und sich damit schonungslos auszustellen. Um am Ende für diesen Einsatz gar nicht lange im Bild zu sein. Denn fünf Frauen werden für die Rolle der Petra gecastet, da bleibt nicht viel Spielzeit pro Schauspielerin.

Als das Ensemble im Anschluss an die Premiere von schlimm-peinlichen Casting-Momenten aus ihrem Schauspielerinnen-Dasein berichtete, glaubte man, die eine oder andere Parallele zum Film zu hören. Vor allem aber eines: Je mehr man sich anstrengt zu gefallen, desto unauthentischer die Wirkung – und desto weniger wahrscheinlich bekommt man die Rolle. Natürlich seien sie auch für „Casting“ gecastet worden. Aber das habe großen Spaß gemacht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

„Casting“ ist ein Sittenbild der Filmindustrie. Aber er ist noch mehr: ein Abbild der Leistungsgesellschaft, der die Maske heruntergerissen wird. Und das sprichwörtlich: Wackerbarth lässt die Figur der Maskenbildnerin Hanne (Nicole Marischka) alles geben, um das „wahre“ Ich der Kandidatinnen freizulegen. Bei der einen (Andrea Sawatzki) muss das Zuviel an Makeup runter, bei der anderen (Ursina Lardi) eine Perücke her, um einen anderen Typ zu sehen. Herrlich für den Zuschauer, wie die echten Schauspielerinnen mit solch überraschenden Übergriffen umgehen (müssen).

Bei all den Machtkämpfen um Authentizität und (Selbst-)Darstellung gerät das eigentlich zu produzierende Fassbinder-Remake in den Hintergrund. Stattdessen sieht man, wie Schauspieler zum Spielball verschiedener Interessen werden, sich verbiegen, Hoffnungen geschürt und zerstört werden. Alles auf Kosten von: (fiktiven) Schauspielern selbst.

Angesichts der derzeitigen Debatte um sexuellen Missbrauch gerade in der Filmindustrie kommt „Casting“ allerdings eher harmlos daher. Ob das daran liegt, dass hier fast alle verantwortlichen Positionen mit Frauen besetzt sind? Das jedenfalls wirkt sehr authentisch und wohltuend. Für den Zuschauer. Denn der psychische Druck zur Selbstentblößung, die Existenzängste und Machtspiele wirken umso schärfer und verfehlen am Ende auch nicht ihre Wirkung, wenn der Hauptgewinn für Gerwin darin besteht, überhaupt irgendwie im Film vorzukommen. Und seine einzige Szene noch einmal machen zu dürfen. Traurig, aber wahr: Dabei sein ist eben alles, wenn auch nur als Paketbote.