Robin Campillo: “120 bpm”

Erschienen in DAS THEATERMAGAZIN 12/2107

120 Beats per minute, das ist das ideale Tempo zum Feiern und Sport treiben, in etwa die doppelte Schlagzahl des menschlichen Herzens. Vielleicht hat Regisseur und Drehbuchautor Robin Campillo deshalb den Titel «120bpm» gewählt für seinen Film, der zwischen Hedonismus und Verzweiflung im Angesicht des eigenen Todes changiert. Vor dem deutschen Kinostart lief «120bpm» u.a. bereits in Cannes beim Wettbewerb um die Goldene Palme, bei den Filmfestspielen in Venedig, er ist seit Kurzem für den Europäischen Filmpreis nominiert und bei den Oscars geht er für Frankreich ins Rennen.

«120bpm» spielt im Paris der frühen 1990er Jahre im Umfeld der AIDS-Aktivisten-Szene. Zivilgesellschaftlich und politisch betrachtet, ist das Autoimmun-Defizit-Syndrom noch ein Nischenphänomen. Das zu ändern, hat sich die Aktivistengruppe «Act up» (AIDS Coalition to Unleash Power), Ableger der gleichnamigen New Yorker Gründung, auf die Fahnen geschrieben. Sie setzt sich dafür ein, in Frankreich Aufklärung über AIDS zu betreiben und die Politik zu zwingen, sich für Präventionsmaßnahmen und die Entwicklung neuer Medikamente zu humanen Bedingungen einzusetzen. In Act up versammeln sich vor allem Mitglieder der (damals noch nicht so genannten) LGBT-Gemeinde sowie Drogenkonsumenten und Prostituierte – die meisten von ihnen selbst HIV-positiv.

Umso überraschender, dass die Handlung damit beginnt, wie ein HIV-negativer Sympathisant in die Gruppe einsteigt. Arnaud Valois verleiht diesem Nathan einfühlsame Virilität. Doch ist Nathan weit mehr als ein Beau: Ausgestattet mit einer rätselhaften Verbindung zur Krankheit und den Anliegen von Act up, führt er den (vermeintlich) unwissenden Zuschauer in den Kosmos der frühen 1990er Jahre ein. Aber was bringt Nathan dazu, bei Act up mitzumachen? Dankbarkeit? Ein Helfersyndrom?

Nathans Gegenpart ist Sean Dalmazo, gespielt vom Argentinier Nahuel Pérez Biscayart, der in Deutschland bereits neben Christian Ulmen in „Becks letzter Sommer“ und in Maria Schraders „Vor der Morgenröte“ zu sehen war. Seine Figur ist deutlich extrovertierter angelegt: Selbst mit dem HI-Virus infiziert, ist er mit Mitte 20 bereits ein alter Hase bei Act up, scheut sich nicht vor lauten Wortmeldungen oder schrillen Aktionen wie einem – offenbar im Genre „Schwulenfilm“ für obligatorisch erachteten – Cheerleader-Auftritt bei der Gay Pride.

Er ist, wie er einmal versichert, hauptberuflich HIV-positiv, das reicht. Zwischen Sean und Nathan entspinnt sich im Laufe des mit 140 Minuten recht langen Films eine eindringliche Liebesgeschichte, die auch die körperliche Seite nicht ausspart, sogar offensiv zeigt. Sicher auch deshalb die FSK-Ab-16-Einschätzung – schade angesichts der filmischen Botschaft.

«120bpm» ist die Nahaufnahme einer typischen politischen Vereinigung. Geeint durch ein gemeinsames Ziel, im Detail reichlich zerstritten: Sollen gewaltsame Mittel angewendet werden, um die eigenen Positionen durchzusetzen? Soll direkt mit Pharmakonzern-Vertretern diskutiert werden? Stark die Szene, in der um einen Slogan für die Gay Pride debattiert wird. Einfach und entwaffnend: „Das könnte meine letzte Gay Pride sein“. Doch statt einer Einigung gibt es ein Nebeneinander verschiedenster Sprüche.

Ein Symptom der Gruppenorganisation: nach innen streng basisdemokratisch, die Debattenkultur im studentischen Hörsaal pflegend und verteidigend, auch wenn es mal spät wird. Die Stärke der von Aktivisten-Präsident Thibault (ideale Besetzung: Antoine Reinartz) geführten Vereinigung liegt denn auch nicht im Konsens, sondern in wilden, Aufmerksamkeit heischenden Interventionen – sei es in der Pharmawirtschaft oder bei politischen Versammlungen, wobei reichlich Theaterblut fließt.

Regisseur Campillo rückt mit seinem Film ein Thema in den Fokus, das angesichts des gegenwärtigen Streits um politische Gleichberechtigung von LGBTI in den Hintergrund zu rücken droht. HIV scheint heute kein großes Thema mehr, eine beherrschbare Diagnose. Gibt es da eine trügerische Ruhe?

Anfang der 1990er jedenfalls herrschte Ruhe aus ganz anderen Gründen. Mit der engen Begleitung Seans und seines Partners Nathan gelingt «120bpm» eine Perspektive, die von zwei Seiten berührt, erschüttert, wachrüttelt. Selten hat man so unpathetisch gesehen, wie ein junger Mensch am Leben hängt – und gleichzeitig um die eigene Verantwortung für seine Ansteckung weiß. Selten sah man einen äußerlich starken Mann, vor Lebenskraft strotzend wie Nathan, so weich und einfühlsam. Bewegend, wie seine Liebe zu Sean trotz des zunehmend schwierigen Krankheitsverlaufs nicht kleiner, sondern größer wird. Bis zum letzten, ultimativen Liebesbeweis, der einem das Herz brechen lässt. Dem Zuschauer geht es wie Nathan in seinem Leben: Auch wenn man es versucht – nach dem Erlebnis dieses Films ist nichts mehr wie zuvor.