Simulierte Realitäten (2016)

von Dirk Baumann

Jüngst ist ein neuer Hype ausgebrochen, er heißt: „Pokémon Go“. Das Spiel des kalifornischen Spieleherstellers Niantic ist das erfolgreichste Augmented Reality- Spiel mindestens der jüngeren Gegenwart und Teil einer immer tiefer greifenden Entwicklung: der Simulation, das heißt Nachbildung bzw. Nachempfindung der realen Welt in digitaler Form. Das Spiel integriert die uns umgebende Umwelt in die Bildschirm-Realität als Nachbildung im Kartenformat – umgekehrt integriert es die Pokémon-Monster über die Gerätekamera in unsere reale Welt, wenn wir sie durch den Bildschirm betrachten. Unabhängig von diesem jüngsten Technik-Streich haben wir uns aber schon längst an virtuelle Realitäts-Simulationen gewöhnt. Mal vermischen sie sich mehr, mal weniger mit der analogen Realität. Immer aber haben sie eines gemeinsam: Sie simulieren Welten, das heißt sie ahmen Teile der Welt nach oder aber erschaffen eine gänzlich neue. Das, was einmal mit eher rudimentären Nachbildungen in großen Computern anfing, ist mittlerweile in jedermanns Hand – das Smartphone ist eine jederzeit verfügbare Schnittstelle zu solchen simulierten Welten und bietet zugleich immer größer werdende Möglichkeiten. Und es sind nicht nur die Branchenprimusse Apple und Google, die darum wetteifern, wie sich die neu erschaffenen virtuellen Realitäten mit der ‚echtenʻ Welt verbinden lassen. Dass Niantic als Google-Startup begann, sich 2015 aber vom Google-Mutterkonzern Alphabet löste, ist dabei eine erwähnenswerte Randbemerkung.

Augmented Reality-Anwendungen erweitern die reale Welt um eine künstliche, die einen (ökonomischen) Mehrwert bietet. Und sicher ist diese Form der Überlagerung von Realitäten, die vor allem auch Dank Googles „Glass“-Projekt bekannt wurde, die spektakulärste Form der Verbindung von simulierter und ‚echterʻ Welt und noch nicht am Ende ihrer Möglichkeiten. Aber auch ohne diese tatsächliche Überblendung erweitert die Technik schon länger unsere Welt: Kartendienste zeigen uns umliegende Restaurants und „POIs“ an, ÖPNV-Apps die Live-Abfahrten der nächsten Haltestellen, Dating-Apps die besten „Matches“ in der Umgebung usw. Der Mensch ist längst nicht mehr nur Subjekt in seiner Welt, sondern User einer erweiterten Realität, zu der er über das Interface Smartphone Zugang erhält. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen, simulierte und ‚echteʻ Realität werden sich zunehmend überlagern – bis, ja bis wohin eigentlich? Bis beide nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind und die Interfaces in den Menschen integriert sind?

Parallel zur Augmented Reality – und jüngst weit prominenter von den Medien beachtet – entwickelt sich die „Virtual Reality“: Sie versucht nicht mehr nur eine künstliche mit der tatsächlichen Welt zu verbinden, sondern eine gänzlich neue zu kreieren, in die der Mensch mit seiner ganzen Aufmerksamkeit eintaucht. Auch hier braucht es ein leistungsfähiges Interface, derzeit meist Brillen in Verbindung mit einem Computer-System: Vorreiter Oculus Rift, die HTC Vive, die nicht nur von Gamern sehnlichst erwartete PlayStation VR oder sei es ‚nurʻ ein Cardboard, in das ein Smartphone gesteckt wird. Allen gemeinsam ist ihr immersiver Charakter: Der Mensch steht nicht mehr nur vor einer erschaffenen Welt, von der er sich als Subjekt klar unterscheiden kann, sondern taucht mitten hinein, mit seiner ganzen Aufmerksamkeit. Die Umwelt wird dabei vollständig ausgeblendet, Nebenwirkungen eingeschlossen: Schwindelgefühl, Übelkeit und andere Begleiterscheinungen zeugen von der Diskrepanz zwischen Körper und Bewusstsein. Denn während das Bewusstsein vollständig eintaucht in eine andere Welt, bleibt der Körper zurück im Hier und Jetzt – vom Gehirn erwartete auch körperliche Reaktionen auf Erlebtes bleiben aus – oder umgekehrt: Der rasante Flug durch eine künstliche Welt zieht eben das Schwindelgefühl nach sich, das auch bei einem ‚echtenʻ Flug entstehen würde, auch wenn der Körper an Ort und Stelle in relativer Ruhe verharrt.

Doch was technisch so weit fortgeschritten scheint, ist es auf inhaltlicher Seite noch lange nicht. Gegenwärtig wird der VR-User egal auf welcher Plattform meist in virtuelle Spielewelten entführt, was sicher auch mit ökonomischen Gesichtspunkten zu tun hat – denn noch immer ist die Programmierung von VR-Welten ein zeit- und kostspieliges Unterfangen. Derselbe Grund mag dafür sprechen, dass sich die Pornoindustrie der VR-Technik zu bedienen beginnt (nicht zum ersten Mal ist sie es, die sich als eine der ersten neuen Technologien zuwendet). Wohin die Reise geht? Ungewiss. Aber ob vollständig immersiv oder nicht: Die Grenzen zwischen Realität und virtueller Simulation beginnen zunehmend zu verschwimmen.

Doch das Phänomen Simulation lässt sich auch aus einer anderen Perspektive betrachten: Was wäre, wenn unsere Realität eigentlich eine Simulation wäre? Ganz im Wortsinne des lateinischen simulare = vorspiegeln/vorgeben, gemeint als die umfassende Vorspiegelung einer Welt. Dass dieser Gedanke nicht so abwegig ist, haben Kunst und Philosophie bewiesen.

Aus künstlerischer Perspektive sei hier beispielhaft auf Rainer Werner Fassbinders Filmklassiker „Welt am Draht“ verwiesen. Fassbinder treibt darin den Gedanken simulierter Welten recht weit und erhebt den Begriff der Immersivität dabei in sein maximal Vorstellbares. In „Welt am Draht“, das auf Basis von Daniel F. Galouyes Roman „Simulacron 3“ aus dem Jahr 1964 entstand, gibt es viele täuschend echte Simulationen von Welten, gleich in mehreren Ebenen „übereinander“. In diesen simulierten Welten existieren menschliche Subjekte, die nichts von ihrer Existenz als Simulationen wissen – jeder Mensch hält die seine Welt für die einzig echte, für die oberste Stufe einer Reihe von simulierten. Mit Ausnahme eines Mannes, Fred Stiller, der sich im Verlauf der Handlung zur Bedrohung für die Ordnung der simulierten Welten entpuppt. Noch ohne die Möglichkeit von visuellen Animationen gedreht (Erscheinungsjahr 1973!), schaffte es der Film einen Diskurs anzustoßen, der seither nicht abreißt.

Dass es sich bei der Frage, ob und wenn ja, wie wir in und mit einer simulierten Welt leben, um einen ernstzunehmenden Diskurs handelt, zeigt auch ein Blick in die Philosophie. Hier existiert eine rege Debatte um die sogenannte „Simulations- Hypothese“. Einige Philosophen sind der Meinung, dass wir – ähnlich wie in „Welt am Draht“ – schon längst in einer simulierten Welt leben, ohne es zu bemerken. Der Mensch wie wir ihn kennen also bloß ein Schaltkreis, ein elektrischer Impuls, ein Haufen von Bytes und Daten in einem Simulationscomputer?

Der schwedische Philosoph Nick Bostrom, Professor an der renommierten Oxford University, stellte in einem 2003 erschienenen Aufsatz die Frage „Are you living in a computer simulation?“ Diese provokante Infragestellung der Gegenwart erwies sich schnell als brandheiße und kontrovers diskutierte wissenschaftliche Debatte, die Bostrom mittlerweile auch auf einer eigenen Homepage bündelt (www.simulation- argument.com). Bostrom stellt die Hypothese auf, dass eine höher entwickelte Zivilisation die uns bekannte Wirklichkeit in einem Computer simuliert, unsere Welt inklusive aller Lebewesen also eine einzige große Simulation sei. Und unternimmt zugleich den Versuch wenn nicht eines Beweises, so doch den einer „Möglichkeitsuntersuchung“. Ergebnis: Es sei nicht nur davon auszugehen, dass die vollständige Simulation der Welt möglich ist, sondern dass die Menschheit bereits „mit großer Wahrscheinlichkeit in einer Simulation“ lebt. Warum, das bleibt unbeantwortet. Auch wir, die bereits simulierten Wesen, könnten eines Tages – wenn der technologische Fortschritt es erlaube – selbst eine Simulation einer künstlichen Welt beginnen und so eine Welt in der Welt schaffen. Mit der theoretischen Option auf unendlich viele weitere Welten in den Welten, wie in „Welt am Draht“: der Beginn der Multiversum-Theorie.

In der jüngeren Populärkultur wurde die „Simulations-Hypothese“ vor allem durch die „Matrix“-Trilogie anschaulich bekannt, in der die Menschheit als riesiges Energie- Reservoir ausgebeutet wird, während den Menschen ihr ‚normalesʻ Leben nur vorgegaukelt wird. Neo, der Auserwählte, führt den Kampf gegen die Ausbeuter und Unterdrücker an, um die Menschheit aus der künstlichen Matrix zu erlösen und in die ‚echteʻ Welt zu bringen. Doch dieses Vorgehen ist im wissenschaftlichen Diskurs um die Simulations-Hypothese umstritten: Denn wie sollte man sich als simuliertes Wesen in einer Simulation am besten verhalten? Das Subjekt steht unter ständiger Beobachtung der Programmierer aus der nächsthöheren Ebene und lebt dadurch in der ständigen Gefahr der Sanktionierung des eigenen Verhaltens – von der individuellen Belohnung oder Bestrafung bis zur Löschung des Einzelnen oder: der ganzen Welt. Der US-amerikanische Ökonom Robin Hanson rät daher in seinem Aufsatz „How to Live in a Simulation“ dazu, alles zu tun, um weiter fortzubestehen und die Chance zu wahren, in einer der ‚höherenʻ Welten wiedersimuliert zu werden. Praktisch bedeutet das: sich weniger um andere kümmern, mehr für das Heute leben, öfter an entscheidenden Ereignissen teilhaben, unterhaltsamer und lobenswerter sein und die berühmten und bekannten Menschen im eigenen Umfeld dazu bringen, sich für einen selbst zu interessieren. Insofern zöge die Annahme, dass wir alle in einer Simulation leben, auch eine spezielle Verhaltensethik bzw. eine Moral nach sich. Das aber erinnert in gewisser Weise an eine Religion: Denn was sind die Programmierer einer simulierten Welt anderes als Götter? Sie erschaffen die simulierte Welt und ihre Bewohner und haben die Macht über sie – so wie wir vielleicht eines Tages über die Bewohner der Welt, die wir selbst programmieren könnten. Oder die Software-Entwickler von heute bereits über die von ihnen erschaffenen virtuellen Welten haben.

Um überhaupt eine Chance zu haben, die eigene Welt als Simulation zu entlarven, empfiehlt der britische Mathematiker und Physiker John Barrow in seinem Aufsatz „Living in a Simulated Universe“ nach Fehlern Ausschau zu halten. Die detailgetreue Simulation aller Naturgesetze sei nämlich viel zu aufwändig, an manchen Stellen müsse „über den Daumen gepeilt“ werden. Genau wie in einem animierten Film eine Wasseroberfläche das Licht reflektiere: Eben so, dass es realistisch erscheint – und nicht, wie es den Naturgesetzen entsprechend bis ins letzte Detail sein müsste. Durch diese Vereinfachungen in der Computersimulation müsse es auch zu kleinen Fehlern, „glitches“, kommen, bedingt durch die vorhandenen Ressourcen des Simulationscomputers oder auch das tatsächliche faktische Wissen der Simulatoren, die ihr Wissen um eine bessere Konstruktion der simulierten Welt ja auch erst sukzessive aufbauen. Fallen diese Fehler wiederum in der simulierten Welt auf, müssten schnell Updates oder „error-correcting codes“ her, die diese Fehler korrigieren – und die vielleicht den eigentlich definierten Naturgesetzen der simulierten Welt widersprechen. Barrow ist der Überzeugung, dass mit dem Auftreten solcher glitches gerechnet werden müsse.

Nehmen wir einmal an, wir befinden uns bereits in einer simulierten Welt: Müsste das Ziel simulierter Wesen denn immer sein, zu versuchen, aus dieser simulierten Welt auszubrechen (mal abgesehen von der Tatsache, dass virtuelles, simuliertes Leben nur aus anorganischen Bytes besteht – wie sollte man die in organisches Leben transferieren?)? Nein, sagt der US-Philosoph Hubert Dreyfus, Bezug nehmend auf die „Matrix“-Trilogie („Existential Phenomenology and the Brave New World of The Matrix“): Warum sollten die Menschen darin ausbrechen wollen, wenn sie in der Simulation doch eigentlich ein gutes Leben führen und auch gar nicht um ein ‚anderesʻ Leben wissen?

Egal, ob man nun daran glaubt, dass die Simulations-Hypothese berechtigt ist oder nicht, verhaltensethisch betrachtet scheint es deutlich einfacher von der eigenen Realität in eindeutig simulierte ‚hinabzuschauenʻ. Denn diese haben (noch) relativ klar definierte Urheber und Grenzen, die es erlauben, sie zu betreten oder zu verlassen. Das geht derzeit noch ganz einfach, indem man das Interface auf- oder absetzt bzw. an- oder ausschaltet. Dadurch haben die simulierten Realitäten in gewisser Hinsicht den Charakter eines Spiels, das auch dadurch gekennzeichnet ist, dass man es jederzeit verlassen kann –, egal welchen Grad an Immersivität es hat. So wie „Pokémon Go“ eben auch einfach abzuschalten ist. Und so lange sich beides klar voneinander unterscheiden lässt, Realität und Simulation, birgt die Technologie immenses Potential. Doch was passiert, wenn mit einer virtuellen Realität auch tatsächliche Kontrolle einhergeht und aus Spaß Ernst wird, das kann noch keiner genau sagen.