Shameless

Erschienen in DAS THEATERMAGAZIN 6/2018

Familie – das ist ein beliebtes Thema für das Genre der Dramedy. Schade, dass diese Mischung aus Drama- und Comedyserie bei deutschsprachigen Serienproduzenten noch immer brachliegt. Denn wie grandios sie sein kann, zeigt sich vor allem bei US-amerikanischen Produktionen, wie etwa bei Amazons «Transparent» (siehe Theatermagazin Nr. 1), in der das Coming-Out von Hauptfigur und Familienvater Mort als Transgender Auslöser für allerlei dramatische und komische Familientragödien war (zuletzt ist die Serie aber auch durch Belästigungsvorwürfe gegen Hauptdarsteller Jeffrey Tambor in die Schlagzeilen geraten).

Auch bei «Shameless», einer Showtime-Produktion (in Deutschland u.a. beim Pay-TV-Sender FOX und bei den Streaminganbietern Sky und Amazon Prime zu sehen) ist es der Familienvater, der Ankerpunkt einer gelungenen Dramedy ist – in Gestalt von Frank Gallagher (herrlich tumb-trottelig: William H. Macy; 2018 für diese Rolle bei den Golden Globes nominiert), dessen zügelloser Alkoholismus für allerlei Verwerfungen sorgt. Dass die Serie mutmaßlich deshalb den erklärerischen deutschen Untertitel «Nicht ganz nüchtern» trägt: überflüssig aber verzeihbar. Dieses US-amerikanische «Shameless» – man muss es dazusagen – ist keine US-Erfindung, sondern startete bereits 2011 als Remake der britischen, gleichnamigen Vorlage. Eine beliebte US-Methode, erfolgreiche Konzepte zu übernehmen.

Figur Frank ist Oberhaupt der Familie Gallagher aus Chicago. Nachdem Mutter Monica die Familie vor Jahren verlassen hat und Frank jeden Morgen nach durchzechter Nacht in Parks, auf Bänken oder zwischen Mülltonnen aufwacht ohne zu wissen, wie er dort eigentlich hingekommen ist, kümmert sich die älteste Tochter Fiona (charmant: Emmy Rossum) um ihre Geschwister: den talentierten, sich aber selbst im Weg stehenden Phillip (Jeremy Allen White), den seine Rolle suchenden Ian (Cameron Monaghan), die resolute Debbie (Emma Kenney), den Teilzeit-Gangster Carl (Ethan Cutkosky) und Nachzügler Liam (in wechselnder Besetzung). Diese Familienkonstellation verspricht unterhaltsames Chaos: Das marode Haus ist vom permanenten Zusammenbruch bedroht, die Haushaltskasse hat mehr Löcher als Inhalt und ständig tauchen neue Unwägbarkeiten auf, denen Fiona und ihre Geschwister unterhaltsam-überfordert gegenüberstehen in dem Versuch, diese Familie irgendwie am Leben zu erhalten. Dabei überzeugen nicht nur die Schauspieler, die Qualität der Serie entsteht zu einem großen Teil aus ihrem Mut zu unmöglichen Situationen und Figurenläufen. Vater Frank ist absolut untauglich als klassischer Familienvater, dafür umso mehr davon überzeugt, der beste Vater der Welt zu sein. Ungeheuer kreativ ist er darin, den Sozialstaat und seine Mitmenschen zu betrügen. Und auch die Kinder sind ideenreich darin, immer neue Einnahmen zu generieren – egal in welchen Alter –, beides lässt den Zuschauer zwischen Lachen und Weinen zurück.

Das Ganze gerät glücklicherweise nicht zu einer Form von Armuts-Tourismus, ganz im Gegenteil. Obwohl jede Figur von einem besseren Leben träumt und die Gallaghers immer wieder von Jugendamt, Gentrifizierung und dubiosen Gestalten bedroht sind, werden weder Milieu noch Figuren ausgestellt. Die Serie erzählt von einer Familie, die zwar nach außen kaputt wirken mag, nach innen aber umso besser funktioniert. Und dabei ausgesprochen modern ist: Komme, was wolle – niemand wird im Stich gelassen, selbst Vater Frank nicht. Und Familie heißt hier auch nicht nur Kleinfamilie, sondern Wahlfamilie, zu der auch die Nachbarn gehören.

Zugegeben, «Shameless» hat keine großen, staffelumspannenden Storylines, keine raffinierte, verschachtelte Dramaturgie. Doch es scheinen immer wieder gesellschaftlich relevante Themen auf wie die Frage nach sozialer Gerechtigkeit oder der gesellschaftliche Umgang mit Homosexualität. Wie seine Hauptfiguren kommt die Serie offen und ehrlich daher. Sie verspricht nicht mehr und nicht weniger als qualitätsvolle Unterhaltung und ist auch nach einem langen Tag noch gut konsumierbar. So ‘shameless’, schamlos, geht sie mit ihren Dialogen, Figuren und der Art und Weise des Erzählens um, dass es hiesigen TV-Produzenten die Schuhe ausziehen dürfte. Und das ist ihre größte Qualität. Selbst die unvermeidlichen Rückblicke auf die letzte Folge sind hier ein Fest, wenn den Zuschauern in immer neuen kleinen Sequenzen von einer der Serienfiguren vorgeworfen wird, dass man die letzte Folge verpasst habe.

Für die Zuschauer verheißt «Shameless» eine ungewohnte Storyline, die immer wieder überrascht, dabei nie überfordert, aber immer unterhält. In den mittlerweile acht Jahren, in denen es die Serie gibt, blieb der Hauptcast gleich. So kann der Zuschauer die Figuren tatsächlich aufwachsen und älter werden sehen. «Shameless» ist eine Liebeserklärung an die Familie. Und zum Schreien komisch.

In diesem Jahr beginnt die Ausstrahlung der neunten Staffel.